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 Wege des schwarzen Todes

- Zwischen Historie und Medizin: Die Pest in Europa -
(FAZ Nr. 114 vom 17. Mai 2000), Autor: Manfred Vasold

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Nach der Pest des Justinian im sechsten Jahrhundert nach Christus, die auch den Nordwesten des Römischen Reiches heimsuchte, blieb Europa lange von diesem Übel verschont. Aber im September 1347 brachten genuesische Schiffe von der Krim reichlich Pesterreger nach Italien. Im Jahr darauf wütete auf der Apenninhalbinsel die Pest und begann sich von dort auszubreiten. Vieles an der raschen Ausbreitung ist rätselhaft, für den medizinhistorisch Kundigen mehr als für den Laien. Der 1991 gestorbene amerikanische Seuchenhistoriker David Herlihy vermisst in seinem posthum veröffentlichten Buch "Der schwarze Tod und die Verwandlung Europas" (Wagenbach Verlag, Berlin 1998) das massenhafte Rattensterben, das den Pestepidemien angeblich vorausgeht. Über Jahrhunderte sei den Beobachtern dieser Krankheit dieses Omen entgangen. "Aber entgeht es ihnen wirklich?", fragt Herlihy. "Ist es überhaupt aufgetreten?"

Herlihy hat viele Fragen aufgeworfen, die bislang keineswegs befriedigend beantwortet wurden. Geschah 1347/48 wirklich der erste Ausbruch von Pest seit dem sechsten Jahrhundert? Tatsächlich stieg schon vor 1348 in einzelnen Jahren die Sterblichkeit sprunghaft an. Lange hat die deutsche Historiographie deswegen angenommen, dass es auch vor 1348 hierzulande Pestausbrüche gab. Dann verschwand diese Auffassung wieder. Aber es gab vor 1348 Sterblichkeitskrisen, deren Ursache ungeklärt ist.

Die Pest kam in Mitteleuropa aus dem Süden, aus Italien. Von dort zog sie auf dem Seeweg rasch weiter an die Küsten Frankreichs und Spaniens, sehr viel langsamer über die Alpen nach Mitteleuropa. Basel und Wien wurden etwa zur gleichen Zeit erstmals von dem Übel befallen, im Mai oder Juni 1349. Ob die Seuche tatsächlich noch im Jahr 1348 bayerisches Gebiet erreicht hat, ist fraglich. Im Sommer 1349 breitete sie sich in Südwestdeutschland aus und erreichte bald auch Städte am Rhein. An der Nordseeküste tauchte sie schon etwas früher auf.

Im neunzehnten Jahrhundert nahm man an, dass die Pest alle Städte getroffen habe. In Wirklichkeit entkamen ihr viele, ganze Regionen blieben zunächst unberührt. Der böhmische Kessel beispielsweise war nicht betroffen. Nach Böhmen kam die Pest erstmals 1357, und für Breslau ist in den "Annalen Wratislawienses majores" erstmals 1373 von einer "maxima pestilentia et caristia" die Rede. Nicht selten hat man aus anderen Erscheinungen irrtümlicherweise gefolgert, dass die Pest eine Stadt überzogen hatte, vor allem aus Judenpogromen des Jahres 1349.

Neuere Forschungen zeigen, dass viele deutsche Städte vom schwarzen Tod – nur die erste Pestpandemie sollte man als schwarzen Tod bezeichnen – verschont blieben. Ob die erste Pestwelle München erreichte, ist noch nicht geklärt. Von anderen süddeutschen Städten – Nürnberg, Würzburg oder auch Rothenburg ob der Tauber – weiß man seit einigen Jahren, dass sie nicht berührt wurden. Aber auch in Göttingen, Trier, Berlin, Düsseldorf und Duisburg trat der schwarze Tod (1349/50) nicht auf.

Die Übertragung der Pest ist "außerordentlich umständlich" (Herlihy). Wie sie vor sich geht, wurde im Verlauf der großen Pestepidemie zur Jahrhundertwende in Ostasien geklärt. Der Schweizer Arzt Alexandre Yersin entdeckte 1894 in Hongkong das Pestbakterium (Yersin pestis). Drei Jahre später, 1897, bemerkte der Franzose Paul-Louis Simond, dass bei dieser Pandemie in Indien ein tierischer Vektor den Krankheitskeim übertrug, und zwar der Rattenfloh (Xenopsy...la cheopsis.). Dass in Asien die Ratten an dem Geschehen fleißig beteiligt waren, wurde daraus ersichtlich, dass die Ratten starben, bevor das Sterben unter den Menschen begann. Den genauen Ablauf der Übertragung spürte 1906 der englische Entomologe Charles Rothschild auf, als er entdeckte, dass der Floh mit dem Blut, das er aus dem Gefäßsystem der pestkranken Ratte saugt, auch Pestkeime aufnimmt und weiterträgt.

Die Rattenfloh-Theorie

Wenn eine pestkranke Ratte stirbt, verlassen ihre mit dem Pestkeim behafteten Flöhe den erkaltenden Leichnam und suchen einen neuen Wirt, der auch ein anderer Warmblütler als eine Ratte sein kann. Sie saugen sein Blut ein, und aus ihrem Vormagen gelangt das Bakterium in den Kreislauf des Gestochenen. Wenige Tage später erkrankt dieser an der Beulenpest, in fünfzig bis achtzig Prozent der Fälle stirbt er. Wie verhalten sich nun die Menschenflöhe, die dieser Verstorbene möglicherweise auf sich trug? Der Menschenfloh (Pulex irritan..) ernährt sich gleichfalls vom strömenden Blut seines Wirtes, aber er besitzt keinen Vormagen, aus dem er alte Blutreste und das Pestbakterium in den Kreislauf eines Gestochenen spült. Beim Menschenfloh verläuft die Übertragung etwas anders. Der pestbehaftete Menschenfloh beherbergt wie der Rattenfloh den Erreger im Verdauungstrakt, aber er scheidet ihn mit dem Kot aus. Der Gestochene reibt sich dann den Erreger durch sein Kratzen in die kleine juckende Stichwunde. Für die Verbreitung kommt es darauf an, sagen die Menschenfloh-Theoretiker, dass es genügend Menschenflöhe gebe.

Der Epidemiologe Hans Raettig hat im dreibändigen "Weltseuchenatlas" von 1553/56 deren wichtigste Erkenntnisse zusammengefasst: Bei den mittelalterlichen Pestseuchen in Europa wurde kein Rattensterben beobachtet – die Pest berührte also nur Menschen, nicht die Ratte. In unseren Breiten wurde die Pest vorwiegend innerhalb von Familien übertragen, also wohl direkt von Mensch zu Mensch.

Die europäische Pest zeigte ein grundlegend anderes Erscheinungsbild als die Pest der Jahrhundertwende in Asien, nämlich sehr viel häufiger schwarze Flecken auf der Haut der Erkrankten, abgestorbene Gewebe, die Folge kleiner Blutergüsse, die von den pestinfizierten Flohstichen herrührten. Daraus folgerte Raettig, dass diese Pestinfektionen in Europa von einer Vielzahl von Menschenfloh-Stichen stammten.

Die Anhänger der Rattenfloh-Theorie behaupten, dass einzig und allein der Rattenfloh die Pest massenwirksam übertragen könne (Graham Twigg: "The Black Death". A Biological Reappraisal, London 1894). Deshalb bezweifelt Twigg auch, dass es tatsächlich die Pest war, die 1348/49 Europa heimsuchte. Die rasche Ausbreitung lässt ihn an andere Krankheiten denken, vor allem an den hochkontagiösen Milzbrand, dessen Sporen selbst in Luftströmungen getragen werden können und dessen Symptome denen der Beulenpest ähneln. Aber noch ist nicht sicher, dass sich die Seuche tatsächlich so schnell ausbreitete. Bei der Pest ist eine rasche Ausbreitung nur dann möglich, wenn sie in Gestalt der Lungenpest auftritt – dann wird sie, ähnlich wie die Grippe, durch das Aerosol übertragen.

Wie hoch war die Sterblichkeit 1348/49 in Deutschland? Die Fachleute wissen es nicht. Gelegentlich ist von einem Drittel der rund dreißig Millionen Einwohner Mittel- und Westeuropas die Rede, die beim ersten Ansturm der Pest getötet wurden.

Der Kampf um Immunität

Bei der Aussage von Verlusten von einem Drittel für 1348/49 sind Zweifel angebracht. Es handelt sich in der Regel um Mutmaßungen. Die Pest hat viele dahingerafft – aber nicht in diesen beiden Jahren. Sie kam fortan alle paar Jahre (Massimo Livi Bacci: "Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte", Verlag C. H. Beck, München 1999). Die Immunität der Überlebenden hielt nur sechs bis zwölf Jahre an, und wenn diese Zeit vorbei war, kam eine neue Welle, denn es gab wieder genügend nicht-immune Personen. Für die Zeit um 1350 beziffert der Mediävist Erich Meuthen die deutsche Bevölkerung auf dreizehn bis vierzehn Millionen. Ihren Tiefstand erreichte sie erst gegen 1470, mit sieben bis zehn Millionen. Nach 1470 begann die Bevölkerung wieder langsam zu wachsen – bis die Seuchen des Dreißigjährigen Krieges, vor allem Pest und Fleckfieber, den Anstieg unterbrachen.

Der demographische Verlust des schwarzen Todes lässt sich für Deutschland nicht genau beziffern. Richtig ist auch, dass weit mehr als ein Fünftel der Deutschen damals nicht in Städten lebten, sondern auf dem Lande. Man wird die demographischen Verluste allenfalls im Umweg über dezimierte Landstriche – Flurwüstungen – erfassen können. Die Wüstungen geben ein ziemlich genaues Bild über den anteiligen Verfall in einzelnen Regionen, aber unmöglich für ein bestimmtes Jahr. Sie machen den demographischen Niedergang augenfällig, nicht jedoch für die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, sondern für das Spätmittelalter insgesamt. Die demographischen Verluste, die Deutschland zwischen 1350 und 1500 erfuhr, waren beträchtlich.

Aus Mitteleuropa verschwand die Pest noch vor 1720 – in diesem Jahr, bis 1722, wütete sie in Marseille und Umgebung. Messina hatte 1740 eine schwere Pestepidemie. Moskau verlor durch sie 1770/71 ein Viertel seiner Bevölkerung. In Unteritalien, auf der Insel Malta und in Teilen Südrusslands – wie überhaupt in weiten Teilen Asiens – grassierte sie noch im neunzehnten Jahrhundert. Dann hört die Pest in Europa langsam auf, abgesehen von ein paar kleineren Epidemien: eine sehr kleine in Paris nach 1918, 1924 in Griechenland, 1945 in Korsika, mit 42 Erkrankungen und 25 Todesfällen. Außerhalb Europas tritt sie auch nach 1945 noch auf, vor allem in Ländern der Dritten Welt.

Warum hört sie in unseren Breiten auf? Der Medizinhistoriker Paul Slack nenn dies "eines der größten Mysterien der Medizingeschichte überhaupt". Etwa zur gleichen Zeit, als die Pest endete, setzten Veränderungen ein, die diesen Wandel herbeigeführt oder begünstigt haben: Man ging im siebzehnten Jahrhundert zunehmend dazu über, Wohnhäuser aus Stein zu errichten, damit gelang es, die Ratten draußen zu halten. Im frühen achtzehnten Jahrhundert verbreitete sich in Westeuropa außerdem eine neue Art von Ratte: Die unter menschlichen Dächern lebende Hausratte (Rattus rattus) wurde von der frei lebenden Wanderratte (Rattus norvegicus) abgelöst. Auch die persönliche Hygiene scheint sich im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts gebessert zuhaben, was zu einem Rückgang der Flohpopulation führte.

Im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts wütete die Pest in weiten Teilen Asiens, bedeutende deutsche Mediziner wie Rudolf Virchow und Robert Koch haben sich eingehend mit ihr befasst. Heute beschäftigen sich Mediziner kaum mehr mit der Pest, denn sie ist selten geworden. Wenn sie sich aber mit ihr befassen, dann in Breiten wie Indien, die ganz andere naturräumliche Gegebenheiten ausweisen als Mitteleuropa. Medizinische Lehrbücher schreiben heute, dass die Pest von Rattenflöhen übertragen werde, was dort richtig ist, wo die Pest heute noch vorkommt. In der Geschichte Europas dürfte es anders gewesen sein.

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Letzte Änderung: 13.11.00 (UG)
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